
Es ist ein dunkler, verregneter Novembertag. Kalt, ungemütlich, trist. Die Pfützen auf dem Asphalt wachsen schnell zu großen Bächen, die leise gluckernd ihren Weg in der Gosse suchen. Die Dächer gleichen einer lackierten Oberfläche, leuchtend, sauber, aber doch grau wie die Häuser, der Himmel und das Wasser.
Die Farben scheinen verreist zu sein, als wenn sie sich am Morgen gesagt hätten: „Heute nehmen wir Urlaub.“ Weit und breit ist kein Mensch zu entdecken, die Straße sieht aus wie leergefegt.
Wochenende – und so ein Wetter! Sie hockt im Schneidersitz auf der Heizung, die Ellbogen auf der Fensterbank, den Kopf in die Hände gestützt und schaut gedankenverloren heraus. Sie überlegt, ob sie depressiv werden soll oder besser die Gemütlichkeit im trauten Heim genießt.
Ihr Atem beschlägt an der Scheibe. In die handtellergroße Fläche malt sie lustlos ein Gesicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln. Schließlich entscheidet sie sich dazu, depressiv zu werden. Allmählich verkleinert sich der milchige Kreis, bis nur noch das gemalte Gesicht schemenhaft zu erkennen ist. Es deckt sich mehr und mehr mit ihrem Spiegelbild, je länger sie vergleicht.
Plötzlich kommt Leben in das trostlose Bild. Ein alter Mann in gebückter Haltung, mit Stock und Regenschirm, spaziert gemütlich auf dem gegenüberliegenden Gehweg. Wieder einmal verflucht sie die Tatsache, dass sie im Erdgeschoss wohnt und jeder beliebige Mensch im Vorbeigehen ungehindert ihre Wohnung inspizieren kann. Schnell steht sie auf und löscht die Zimmerlampe. Eine Kerze als Lichtquelle muss jetzt einfach genügen. Zufrieden nimmt sie erneut auf der Heizung Platz.
Der Mann hat inzwischen fast ihre Höhe erreicht und geht in aller Ruhe weiter. Der dunkelgrüne Mantel und der schwarze Schirm glänzen im Regen. Auch nicht gerade aufregend, denkt sie und will sich gerade dem eintönigen Himmel zuwenden, als der Mann stehen bleibt. Eine riesige Pfütze versperrt ihm den Weg und eigentlich müsste er einfach einen großen Bogen machen – aber er rührt sich nicht, steht reglos vor ihr und blickt scheinbar ins Leere.
Verwundert betrachtet sie sein Gesicht, dass mit einem Male durch ein Lächeln aufgehellt wird. Vielleicht ist er schon senil und erinnert sich an Kindheitserlebnisse oder an seinen Gartenteich oder…
Da! Langsam, wie eine Schildkröte, dreht er sich um und sucht mit gerecktem Hals zu beiden Seiten die menschenleere Straße ab. Unwillkürlich duckt sie sich, beobachtet jedoch weiterhin gespannt die Szene. Was hat er denn nur vor?
Der alte Mann geht zurück an die Pfütze, doch zu ihrer Überraschung schließt er nun den Schirm und klemmt ihn zusammen mit dem Stock unter den Arm. Dabei scheint es ihn nicht im Geringsten zu stören, dass sich die Tropfen in seinem dünnen, grauen Haar verfangen und in den Nacken fließen. Noch ein kurzer Blick nach hinten…und schon hüpft er mit unfassbarer Leichtigkeit und Eleganz mitten hinein in den See, als seien die Gesetze des Alters und der Schwerkraft für einen Augenblick aufgehoben. Die kleinen Fontänen verteilen sich in alle Richtungen und spritzen hoch bis an sein Knie.
Mit großen Augen sieht sie, wie er seinen Kopf in den Nacken legt, kurz verharrt, und nach einem Moment den Schirm aufspannt. Dann setzt er den Weg fort, leicht gebückt und behäbig wie vorher, als wäre nichts geschehen. Kein Mensch käme im Traum darauf, was er soeben getan hat.
Wenig später verschwindet er um die Ecke und lässt eine Zeugin zurück, die jetzt, noch ganz verwirrt, ihrerseits in die so langweilig wirkende Pfütze blickt. Nein, senil war dieser Mann auf gar keinen Fall. Er war…tja, wie sagt man nur?
Ihr Atem hat wieder seine Spuren auf der Scheibe hinterlassen und das gemalte Gesicht kommt zum Vorschein. Wie von selbst verwandelt ihr Zeigefinger den griesgrämigen Mund in ein breites Lächeln.
Dieses Spiegelbild gefällt ihr viel besser.

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