Christines Blog

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Gedanken macht man sich immer. Manche führen in eine Sackgasse, andere wiederum in Abgründe. Einige andere jedoch führen uns weiter, manchmal bis zu einem Ziel.

Lassen Sie sich entführen.

Die Maus

Sie starrt auf das Blatt Papier, das vor ihr liegt. Es ist so weiß wie das Gesicht, das sie heute Morgen im Spiegel sah. Und genauso leer wie der Kopf, der sich müde auf ihre Hände stützt. Was tut sie eigentlich hier? Was hat sie hier verloren?

Das Gekicher vom Nebentisch lässt sie aufschrecken. Was es auch ist, die beiden finden immer etwas, um sich über sie lustig zu machen. Heute sind es wohl ihre Haare. Sie hat so schönes langes Haar gehabt. Blond, lockig, glänzend, aber „Wer lügt, wird bestraft.“

Ihre Mutter war schon immer sehr streng gewesen. Ohne auf ihr Wimmern und Betteln zu hören, hat sie nach der Schere gegriffen. Sie hasst sie dafür. Noch mehr als für alles andere. Denn sie hatte nicht gelogen. Dieses Mal jedenfalls nicht.

Das Gekicher wird lauter. „Wie ein Besen.“ – „Ja, und genauso dreckig.“ Sie will in ein Mauseloch kriechen. Das ist ganz einfach. Sie macht die Augen zu und wird plötzlich klein wie eine Maus. Keiner kann sie sehen, keiner kann sie fassen. Und ihre Mutter hat Angst vor ihr. Am liebsten würde sie ihr Leben lang die Augen geschlossen halten. Dann würde sie nicht mehr sehen und fühlen, was passiert. Dann würde sie nicht mehr bestraft werden.

Sie knabbert an ihrem Kugelschreiber. In die Stille dringen Laute von raschelndem Papier und flitzenden Stiften. 26 Flitzer. Und ein Stift, der nach nichts schmeckt, der so aber auch keinen Schaden anrichtet.

Sie hat geweint, als sie es ihrer Mutter erzählte. Und sie hat sich geschämt. Und sie sagte es erst, als sie wegen der Bauchschmerzen zum Arzt sollte. Drei Tage später. „Wie kannst Du es wagen, Du kleines Biest? Woher hast Du nur solche Geschichten?“ Dann holte sie die Schere. Und ihr Vater kam an diesem Abend wieder in ihr Zimmer. „Ich dachte, Du hast mich lieb, so wie ich Dich.“ hat er geflüstert. „Hast Du mich denn nicht mehr lieb? Wir sind doch Freunde. Und echte Freunde behalten Geheimnisse immer für sich.“ Sie machte die Augen zu und schwupp – war im Mauseloch verschwunden.

Sie schüttelt sich. Ihr wird auf einmal eiskalt. Nur noch 15 Minuten. Das weiße Blatt Papier liegt noch vor ihr, sauber und unschuldig. Ihr steigen Tränen in die Augen.

Es sollten so schöne Ferien werden. Sie sollte aufs Land fahren, wie jedes Jahr. Dann hätte sie jetzt auch viel schreiben können: „Was ich in den Ferien erlebt habe:…bei Oma und Opa bin ich oft mit Kuddel, dem süßen Cocker, spazieren gegangen…die Nachbarskinder hatten eine tolle Bude im Wald…Opa kennt so viele lustige Geschichten die von dem sprechenden Pferd finde ich am besten…der Kuchen von Oma ist der leckerste Kuchen auf der ganzen Welt…“ Aber diesmal. Kein Hund. Keine Bude. Kein sprechendes Pferd. Nur eine Lüge. Nur eine Schere. Nur ein Mauseloch.

Es klingelt. 26 Kinder springen wie von der Tarantel gestochen auf. Sie packen unter ohrenbetäubendem Lärm die Blätter, Stifte und Taschen zusammen. Und ein Mädchen denkt: „Jetzt bekomme ich eine 6. Und das ist keine Lüge.“

Es schließt die Augen und träumt von Micky Maus.

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